Morphologische Seinslehre

Morphologische Seinslehre

Hedwig Conrad-Martius

In der prinzipiellen Frage nach einer möglichen Abgrenzung der einzelnen Naturbereiche voneinander (des anorganischen vom organischen, des vegetativen vom animalischen, des animalischen vom anthropomorphen) hat sich in den letzten Jahrzehnten naturwissenschaftlicher Arbeit ein merkwürdiger und wenig beachteter Anschauungswechsel vollzogen. Wenn die atomisierend-analytische Methode der exakten Naturwissenschaft, die in erfolgreichster Weise sämtlichen Naturgestaltungen in bezug auf ihre letzten sie aufbauenden Elementarbestandteile auf den Grund zu kommen versuchte, von hier aus zu einer wahren Gestaltssynthese nicht mehr zurückfand und alles in den gleichen elementaren Boden einebnete (so daß etwa auch der Mensch schließlich nichts weiter mehr war als eine mit kompliziertest auferbauten organisch-chemischen Stoffen sich selber in Gang haltende Maschinerie), so hat doch dieses gleiche analytischelementare Eindringen in sämtliche materiale Aufbauebenen, Gliederungen und Reaktionsweisen ein überraschendes Resultat gezeitigt: daß nämlich jedes dieser natürlichen Gestaltungsbereiche eine durchaus höhere materiale Formart und Reaktionsweise besitzt, als man der Tradition nach vermutete und vermuten konnte. So hatten sich z B. bisher immer Ernährung, Wachstum, Regeneration des Kristalls von den entsprechenden vegetativen Vorgängen doch aufs Strikteste dadurch unterschieden, daß der Kristall als starrer, geometrisch begrenzter Körper nur in parallelschichtiger Anlagerung wachsen und regenerieren zu können schien, während bei lebendigem Wachstum und lebendiger Regeneration die Aufnahme der ernährenden Substanz und die Wiederbildung der geschädigten oder verlorenen Form in den meisten Fällen vermittels einer wahren inneren Durchdringung und Umbildung der alten Substanz geschieht. Mit der Entdeckung jedoch der sog. flüssigen Kristalle und ihrer weiteren wissenschaftlichen Auswertung fiel diese Scheidewand dahin. Auch der Kristall steht nunmehr als Gebilde da, das durch eigene, in ihm selbst, resp. in der Nährflüssigkeit liegende Gestaltungspotenzen (sagen wir „Determinanten“) die ihm eigentümliche Form aus sich und von innen heraus begründen, zu erzeugen und bei Schädigung wieder zu erzeugen vermag, ja, bei dem es eine Art „Keimwirkung“’ und „Fortpflanzung“ durch Teilung gibt1. So scheint das Unlebendige in die Wirkungsweise des Lebendigen hinein erhöht. Eine analoge Verschiebung sehen wir an den zwei anderen Scheiden: das große merkwürdige Gebiet der pflanzlichen Reizumsetzungserscheinungen (vor allem die Tropismen), die bis zur Entdeckung spezifischer Reizaufnahmeorgane gleich den animalischen Sinnesorganen führte (Haberlandt), hat pflanzliches Sein und Leben dem Anschein nach in animalische Regionen hineinverschoben, und die erstaunlichen Resultate einer zu immer kühneren Experimenten vordringenden Tierpsychologie haben das Bild anthropomorpher Tiere in erschreckende Nähe gerückt. So hat sich also die ursprüngliche Niveauangleichung und Grenzverschiebung nach unten in eine durchgängige Niveauangleichung und Grenz Verschiebung nach oben verwandelt. Das anorganische Gebilde ist fast ein lebendes Wesen geworden, die Pflanze fast ein Tier, das Tier fast ein Mensch.

In the fundamental question of a possible delimitation of the individual areas of nature from each other (the inorganic from the organic, the vegetative from the animal, the animal from the anthropomorphic), a strange and little noticed change of perspective has taken place in the last few decades of scientific work. If the atomizing-analytical method of exact natural science, which tried in the most successful way to get to the bottom of all forms of nature in relation to their last elementary components, could no longer find its way back to a true synthesis of forms and leveled everything into the same elementary ground ( so that man too was ultimately nothing more than a machine keeping itself going with the most complicated organic-chemical substances constructed), this same analytical elementary penetration into all material structural levels, structures and modes of reaction produced a surprising result: namely that Each of these natural design areas has a higher material form and reaction than traditionally suspected and could have suspected. So far, for example, nutrition, growth, and regeneration of the crystal have always differed from the corresponding vegetative processes in the strictest way in that the crystal, as a rigid, geometrically limited body, seemed to be able to grow and regenerate only in parallel layers, while in living growth and living regeneration, the assimilation of the nourishing substance and the regeneration of the damaged or lost form occurs in most cases by means of a true internal penetration and transformation of the old substance. However, with the discovery of the so-called liquid crystals and their further scientific evaluation, this dividing wall fell away. The crystal now also stands there as a structure which, through its own, in itself, resp. creative powers lying in the nutrient fluid (let’s say “determinants”), to create its own form from within and from within, and to create it again in the event of damage, yes, in which there is a kind of “germination effect” and “reproduction” through Division gives1. In this way, the inanimate seems elevated into the mode of action of the living. We see an analogous shift in the two other sheaths: the large, remarkable field of plant stimulus conversion phenomena (above all the tropisms), which led to the discovery of specific stimulus-receiving organs similar to the animal sensory organs (Haberlandt), apparently has plant being and life in animal ones Regions shifted into it, and the astonishing results of animal psychology advancing towards ever more daring experiments have brought the image of anthropomorphic animals frighteningly close. So the original level adjustment and limit shift downwards has turned into a continuous level adjustment and limit shift upwards. The inorganic structure has almost become a living being, the plant almost an animal, the animal almost a human being.

Beides — jene Einebnung in das gleiche material-elementare Niveau und diese jeweilige Überhöhung in das angrenzende Formgebiet — hängt jedoch aufs engste zusammen. Die Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Einzelforschung sind als solche unantastbar. Aber die grundsätzlichen Anschauungskonsequenzen waren hier und dort falsch gezogen, weil es völlig an Einsicht in das Wesen wahrer Formsynthese und Gestaltsbildung fehlte. Dieselbe einseitige Blickrichtung, die über dem gleichen elementaren Baumaterial und seinen Reaktionsweisen die Hineinbildung dieses Materials in jeweilig spezifisch andersartige Totalgestalten (anorganisches Wesen, Pflanze, Tier, Mensch) nicht zu sehen fähig war, läßt sich durch neu entdeckte Reaktionsweisen höherer Art in den einzelnen Naturbezirken dazu verleiten, einen material analogen Verlauf zu formaler Gleichheit abzustempeln, also etwa die „Regeneration“ bei Kristallen der Regeneration bei Pflanzen und Tieren, den Lichttropismus bei Pflanzen einer Bewegungsreaktion des Tieres auf einen Lichteindruck gleichzusetzen.

However, both — that leveling into the same material-elementary level and this respective exaggeration into the adjacent formal area — are very closely connected. The results of individual scientific research are inviolable as such. But the fundamental perceptual consequences were wrongly drawn here and there, because there was a complete lack of insight into the nature of true synthesis of form and creation of form. The same one-sided perspective, which was not able to see the formation of this material into specifically different total forms (inorganic beings, plants, animals, humans) using the same elementary building material and its modes of reaction, can be seen through newly discovered modes of reaction of a higher kind in the individual areas of nature tempted to label a material-analogous course as formal equality, for example the “regeneration” of crystals, the regeneration of plants and animals, the light tropism of plants to be equated with a movement reaction of the animal to a light impression.

Die Naturwissenschaft befindet sich heute schon in breiter Front auf dem Vormarsch zur solange mißachteten reinen Morphologie ). Die Einsicht gewinnt immer mehr an Boden, . daß alle Abstammungs- und Entwicklungslehren ohne Morphologie als ihrem sachlichen Fundament in der Luft schweben, weil schon die Möglichkeit entwicklungsgenetischen Hervorgangs zweier Formbildungen auseinander (ganz abgesehen von dem Beweis einer auch de facto stattgehabten Entwicklung!) die Möglichkeit morphologischer Ableitbarkeit und so den Einblick in die tatsächliche Morphologie der von einander herzuleitenden Formen voraussetzt. Emil Radl bezeichnet diese statische, nicht genetische Morphologie als „Wissenschaft von der Umwandlung der Organismen, von einer solchen Umwandlung nämlich, welche der denkende Mensch mit dem Organisationsplan einer Tierart vornehmen muß, wenn er zu dem Organisationsplan einer anderen Tierart übergehen will“ (S. 78). Was hier naturwissenschaftlich notwendig ist innerhalb eines einzelnen Naturbezirks, des animalischen oder des vegetativen, nämlich die Auffindung des grundlegenden Organisationsplanes, das ist ebenso notwendig für die spezifisch voneinander abgegrenzten totalen Naturbereiche selber. Jede Diskussion nicht nur über die evtl. mögliche (oder unmögliche!) „Entwicklung“ eines Naturbereichs aus dem andern, sondern auch darüber, ob gewisse analoge Erscheinungs- und Reaktionsweisen das eine Naturbereich morphologisch in das andere hinüberführen (so etwa Reizempfindlichkeit die Pflanze in animalische Bezirke), bleibt gegenstandslos ohne wahre Einsicht in den grundlegenden Organisationsplan dieses eigentümlich gestalteten Naturbereichs selber und als ganzen.

Natural science is already on the advance towards pure morphology, which has been neglected for so long. Insight is gaining more and more ground, . that all doctrines of descent and development without morphology as their factual foundation are floating in the air, because the possibility of developmental-genetic occurrence of two forms apart (quite apart from the proof of a de facto development!) the possibility of morphological derivability and thus the insight into the actual morphology of the forms to be derived from each other. Emil Radl describes this static, non-genetic morphology as “the science of the transformation of organisms, namely of such a transformation that the thinking human being must carry out with the organization chart of one animal species if he wants to go over to the organization chart of another animal species” (p. 78). What is scientifically necessary here within a single area of ​​nature, the animal or the vegetative, namely the discovery of the basic organizational plan, is just as necessary for the specifically separated total areas of nature itself. Any discussion not only about the possibly possible (or impossible!) “development” of one natural area from the other, but also about whether certain analogous modes of appearance and reaction lead morphologically from one natural area to the other (e.g. the plant’s sensitivity to stimuli into animal ones districts), remains irrelevant without true insight into the basic organizational plan of this peculiarly designed natural area itself and as a whole.

Was wir hier fordern, ist eine ontologische Morphologie oder morphologische Seinslehre entsprechend den Morphologien innerhalb der einzelnen Naturwissenschaften. Allerdings ist diese morphologische Seinslehre eine philosophische Wissenschaft in charakteristischem Unterschied zu den Naturwissenschaften. Denn der „Organisationsplan“, der hier jeweilig zu finden und zu kennzeichnen ist, liegt mit seinen Verhältnissen und Formbestimmtheiten nicht, wie die naturwissenschaftlichen morphologischen Gestaltungsschemata, in der Ebene räumlich-sinnlicher Anschauung und entsprechend räumlicher Ausmeßbarkeit und sinnlicher Quali- fizierbarkeit beschlossen; sondern es handelt sich dabei naturgemäß um eine tiefere und umfassendere Formebene, bei der der räumlich gebreitete und sinnlich qualifizierte Stoff nur eine kategoriale Dimension neben andern darstellt — Dimensionen, die deshalb nicht weniger real sind, da sie ja die real gegebene Natur mitgestalten.

What we are asking for here is an ontological morphology or morphological theory of being corresponding to the morphologies within the individual natural sciences. However, this morphological theory of being is a philosophical science in characteristic difference to the natural sciences. Because the “organizational plan” that is to be found and marked here in each case, with its relationships and shape determinations, is not, like the scientific morphological design schemes, in the level of spatial-sensual viewing and corresponding spatial measurability and sensual qualifiability; but it is naturally a matter of a deeper and more comprehensive level of form, in which the spatially spread and sensually qualified material represents only one categorical dimension among others – dimensions that are no less real because they help to shape the actually given nature.

Ein Hauptirrtum nämlich, der die Frage nach einer endgültigen Unterscheidbarkeit der verschiedenen natürlichen Formsysteme immer wieder verwirrt, besteht gerade darin, daß man glaubte, diese Unterscheidbarkeit auf der naturwissenschaftlichen Ebene der stofflich-sinnlichen Bestimmtheiten und Reaktionsweisen finden zu können. Während ein tieferes experimentelles Eindringen immer wieder Tatsachen zutage förderte, die solche Unterscheidbarkeit widerlegte und denen recht zu geben schien, die sie überhaupt leugneten: so wie die Entdeckung der flüssigen Kristalle und ihrer eigentümlichen Wachstums- und Regenerationsweise allerdings alle jene in der material-stofflichen Ebene liegenden definitorischen Unterscheidungsmerkmale beseitigte, die bis dahin maßgebend schienen. Mögen aber Wachstum und Regeneration bei Kristallen und Pflanzen auch stofflich analoge Vorgänge sein, so bleiben sie doch etwas wesentlich Verschiedenes, weil sie in von Grund auf andersartig auferbaute Gestaltungsgebilde eingegliedert sind und entsprechend in wesentlich verschiedener Weise aus ihnen hervorgehen. Der Kristall ist zwar in der Tat ein Organismus, der sich aus in ihm resp. der Nährflüssigkeit liegenden Formpotenzen heraus gestaltet und entsprechend diesen Formpotenzen von innen heraus zu regenerieren vermag; nicht aber birgt er wie der lebende Organismus die schöpferische Potenz in sich, sich selber noch einmal zu erzeuge. Darin eben erweist sich das Lebendige als eine vollständig andersartig auferbaute Gestalteinheit.

A major error, namely, which again and again confuses the question of a definitive distinguishability of the various natural form systems, consists precisely in the belief that this distinguishability can be found on the scientific level of material-sensual determinations and modes of reaction. While deeper experimental penetration kept bringing to light facts that disproved such distinctness and seemed to vindicate those who denied it at all: like the discovery of liquid crystals and their peculiar mode of growth and regeneration, however, all those on the material plane lying definitional distinguishing features that seemed authoritative until then eliminated. However, even if growth and regeneration in crystals and plants are materially analogous processes, they still remain something essentially different, because they are integrated into fundamentally different structures and accordingly emerge from them in essentially different ways. The crystal is in fact an organism that develops in it resp. forms out of the form powers lying in the nutrient liquid and is able to regenerate from within according to these form powers; but unlike the living organism, it does not contain the creative potential to generate itself again. It is precisely in this that the living proves to be a completely differently constructed form unit.

Mögen sich so auch bei Tieren durch geeignet angestellte Versuchsketten Reaktionsreihen erzeugen lassen, die in den materialen Ergebnissen denen eines gefragten und denkenden (etwa rechnenden) Menschen ähnlich sehen, so wird dadurch das Tier doch niemals ein Mensch, weil ihm die einzigartige Gestaltungsform der (eo ipso freien) Person fehlt und daher Denken hier und „Denken“ dort etwas formal von Grund auf anderes bleibt. So wird auch die Pflanze niemals ein Tier, mögen sich was immer für Reiz-Bewegungsreaktionen an ihr beobachten lassen, weil das Tier kraft seiner eigentümlichen animalischen Gestaltungsorganisation fähig ist, den „Reiz“ als sinnlichen Eindruck innerlich aufzunehmen und auf diesen innerlich-sinnlich aufgenommenen zu reagieren, während bei der Pflanze die Reiz-Reaktionsfolge in rein physiologischer (vorsinnlicher) Ebene beschlossen liegt.

Even if it is possible to generate reaction series in animals by means of suitably set up test chains, which in the material results look similar to those of a questioned and thinking (e.g. calculating) human being, the animal will never become a human being because of the unique form of the (eo ipso free) person is missing and therefore thinking here and “thinking” there remains something formally fundamentally different. In the same way, the plant never becomes an animal, no matter what kind of stimulus-movement reactions can be observed in it, because the animal, by virtue of its peculiar animal formative organization, is capable of internally absorbing the “stimulus” as a sensual impression and of approaching this internally and sensually received one react, while in the plant the stimulus-reaction sequence is decided on a purely physiological (presensory) level.

Das Thema einer morphologischen Realontologie steht so aufs klarste vor uns. Die großen Organisationsschemata der Natur zu fassen und zu charakterisieren liegt weder in der Möglichkeit der Naturwissenschaft, noch ist es ihre Aufgabe, so wenig wie es etwa Aufgabe einer Psychologie der Sprache sein kann, grammatische und logische Gesetze herauszustellen. So wie aber jede Sprache in gewisse logische und grammatische Urgesetze ohne weiteres eingeformt ist, so ist auch die Natur in ihren einzelnen Bezirken in gewisse typische Grundgestalten eingeformt, die sie nicht sprengen kann. Die experimentell und beobachtend vorschreitende Naturwissenschaft würde in dieser grundsätzlichen Naturmorphologie allgemeine Richtlinien finden, die zur Befruchtung der Problematik und zur Vermeidung falscher allgemeiner Konsequenz nicht unwesentlich beitragen kann.

The theme of a morphological real ontology thus stands before us most clearly. It is not within the scope of natural science to grasp and characterize the great organizational schemes of nature, nor is it its task, any more than it can be the task of a psychology of language to establish grammatical and logical laws. But just as every language is formed into certain logical and grammatical primal laws, so too is nature in its individual areas formed into certain typical basic forms that it cannot break. In this basic natural morphology, natural science advancing experimentally and observationally would find general guidelines that can contribute significantly to the fertilization of the problem and to the avoidance of false general conclusions.